(ö) Erstwähler in spe

(ö) Erstwähler in spe

Die Europa-Wahl ist vorbei. Alle sind furchtbar erschüttert, dass die Blau-Braunen 15,9 Prozent erreicht haben. Schuld sind die Erstwählenden, der Osten und überhaupt alle anderen. Die eigene (westdeutsche) Stadt, Kommune, das eigene Bundesland (wie es halt gerade besser passt) wird gefeiert, weil sie/es besser dasteht als das gesamtdeutsche Ergebnis. Ja, ich bin mal Spielverderberin: Wenn die Nazis irgendwann regieren, wird es keine Inseln der Glückseeligkeit geben.

Zum Thema „die schlimmen Erstwähler“ habe ich mich schon auf Insta ausgelassen. Allerdings in einer Story, daher wiederhole ich mich hier mal (mit genaueren Zahlen):

  • Von den bis zu 60,9 Millionen kartoffeldeutschen Wahlberechtigten in Deutschland waren gerade mal 4,8 Prozent Erstwähler*innen (Quelle). Die Wahlbeteiligung lag bei 64,8 Prozent. Rein rechnerisch haben also 1,9 Million Erstwählende ihre Stimme abgegeben.
  • Von den wählenden Erstwählenden haben 16 Prozent die AfD gewählt. Das sind 303.100 kartoffeldeutsche Personen. Ich möchte nur dazu schreiben.
  • Gleichzeitig liegen die Anteile für die AfD in den Altersgruppen 25-34 Jahre, 35-44 Jahre und 45-59 Jahre bei 18, 20 bzw. 18 Prozent (Quelle). Die zusammen mindestens ein Drittel der kartoffeldeutschen Wählerschaft ausmachen und somit etwa 4,0 Millionen AfD-Wählende. Aber klar. Die jungen Erstwähler sind schuld.
  • Insgesamt gab es bei der Wahl 1,88 Millionen Wechselwähler (von Union, SPD, FDP, Linke und Grüne zur AfD). Aber auch die sind vermutlich nicht schuld.

Wie schon während der Pandemie und der großen Impfpanik helfen auch an dieser Stelle Zahlen (und profaner Dreisatz), um ganz klar festzustellen, dass es mehr als billig ist, reflexhaft rumzutönen, dass die Erstwählenden am Rechtsruck Schuld haben.

Nein, einfach nein. Das ist ein ähnlich banaler Populismus wie der von der AfD.

Und klar, jede Stimme für die AfD ist eine zu viel. Und es ist okay, das Ergebnis – ja, auch gerade bei den Erstwählenden – schlimm zu finden. Aber dabei müssen zwei Aspekte beachtet werden:

  • Diese jungen Menschen sind unsere Kinder, Enkel, Nifften, Kolleg*innen, Schüler*innen, die Kinder unserer Freund*innen. Es geht nicht um „Wie konnten die nur?!“. Die Frage muss lauten: „Wo hat jede*r Einzelne versagt?“
  • Warum fühlen sich junge Menschen – und jetzt müssen wir das Gesamtergebnis betrachten – zu einem Drittel von Konservativ-Rechts am ehesten verstanden/repräsentiert?

Und ich weiß, wovon ich spreche: Ich habe hier einen jungen Mann, der, hätte er wählen dürfen, wahrscheinlich* womöglich die AfD gewählt hätte. Ja, ich, die linke, latent radikale Feministin, habe einen AfD-Sympatisanten im Haus. Ich sehe an ihm, dass die Gemengelange vielschichtig ist. Und ja, das Internet hat einen großen Anteil daran. Einen Anteil, den ich nur kontrollieren könnte, wenn ich ihm das Internet kappen würde. Und nein, es sind nicht nur TikTok und andere kurzsequenzige Medien. Er hört auch viele Podcasts und recherchiert. Aber von einem noch nicht einmal 15-Jährigen fundierte Quellenkritik zu erwarten, ist etwas viel verlangt. Und wir müssen auch leider anerkennen, dass die Neurechten es verdammt gut raushaben, die Kanäle der jungen Menschen zu bespielen. Zudem sind Teenie-Hirne durchaus empfänglich für Populismus: einfache Antworten auf ihre Unsicherheiten, Ängste, Ohnmächte, den jugendlichen Weltschmerz**.

Bei uns kommt sicherlich auch dazu, dass dieser Punkt einer der wenigen ist, an denen er sich mit mir reiben kann. Ja, die tolerante, liberale*** Mutter kann er nicht mit komischen Frisuren und einem eigenen Musikgeschmack**** schocken. Auch darf er anziehen, was er will*****.

Es ist bisweilen sehr anstrengend und herausfordernd zwischen uns. Aber wir sind wirklich im Diskurs. Ihm ist meine Meinung und meine Haltung wichtig. Wie er mit Themen auf mich zugeht, spüre ich, dass er möchte, dass ich ihm den Populismus entzaubere. An vielen Punkten ist ihm durchaus bewusst, dass die einfachen Antworten der Rechten keine Lösung sind. Und an noch mehr Punkten weiß er auch, dass er gar keine Lösungen braucht, weil er letztlich nicht die dazugehörigen Probleme hat.

Regulär wird die erste Wahl, an der er teilnehmen darf, die nächste Landtagswahl in Hessen sein (2028). Ich bin guter Dinge, dass er bis dahin verstanden hat, dass Rechts wählen niemals nie eine Lösung sein kann.

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* Vor einem Jahr wäre das noch wahrscheinlicher gewesen.

** Teenie in diesen Zeiten zu sein, ist tatsächlich alles andere als lustig.

*** natürlich nicht im FDP-Sinn

**** Bei misogynen (Gangster-)Rap wäre meine Toleranzgrenze allerdings erreicht. Den findet er aber selbst ganz schlimm. Rechts-Rock und Co werden natürlich auch nicht geduldet.

***** Rechte Klamottenmarken kämen klar nicht ins Haus.

Ein Gedanke zu „(ö) Erstwähler in spe

  1. Mein kleines Kind durfte auch das erste Mal wählen und wir haben hier ähnliche Diskussionen geführt. Wobei er sich schon ganz klar von den blau-braunen abgrenzt. Wem er letztlich seine Stimme gegeben hat, weiß ich nicht, da er es nicht freiwillig erzählt hat.
    Auch das große Kind durfte das erste Mal wählen, aber da war die Haltung viel klarer und ihr macht der Wahltermin im September echt Sorgen.
    Im Netzt habe ich von Bob Blume einen guten Kommentar bezüglich der Wahlentscheidung vieler Jugendlichen gelesen, der es auf den Punkt bringt: Welche der anderen Parteien, hat sich um die Jungen bemüht und Ihnen zugehört?

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